von Dr. Jürgen Denker
Es ist kalt geworden. Die Luft ist schneidend. Die Sonne aber ist warm. Wir sind ja auch am 38. Breitengrad. Doch die Luft lässt es nicht zu, den Mantel auszuziehen. Diejenigen, die nur zum Mittagessen ihr Büro verlassen, schlendern mit ihren Kollegen nur im Anzug über den Rathausplatz mit seiner geschmackvollen aber pompösen Weihnachtsdekoration im amerikanischen Stil. Schnee hat es schon gegeben, in der Nacht hatte er alles sanft überzogen, aber die Sonne machte ihm schnell den Garaus. Normalerweise aber ist es trocken, strahlender Himmel.
Gestern haben wir den ersten Advent gefeiert. Da wir für diesen Tag nachmittags eine Adventsfeier mit der katholischen Gemeinde zusammen feiern wollten, hatten wir vormittags Gelegenheit, den Gottesdienst der kleinen koreanischen lutherischen Kirche zu besuchen. Zwei Adventskränze, ohne die vier Kerzen, aber über und über mit Kugeln bestückt, hingen an den Wänden. Ein noch ungeschmückter Weihnachtsbaum stand neben der Kanzel.
Zum Eingang singen wir, natürlich auf koreanisch, "O komm, o komm, du Morgenstern" (EG 19). Ich liebe diese Melodie mit ihrer drängenden Sehnsucht nach Gott. Und auch wenn ich kein koreanisch kann, so kann ich doch auf deutsch mitsingen. Nachmittags, bei der Adventsfeier, wurde dieses Lied dann eindrucksvoll von den Studenten des Humboldt-Sprachforums vorgetragen, vor allem der Bass imponierte. Und die deutschsprachigen Besucher hörten gebannt dem Vortrag der koreanischen Studenten zu. Am 15.12. werden die Studenten dieser Sprachschule ein ganzes Konzertprogramm zu Weihnachten gestalten, aber ob dann viele Deutsche kommen, ist fraglich, denn am 14.12., mit Beginn der Schulferien, düsen sie alle zur weihnachtlichen Familienfeier nach Deutschland.
In der koreanischen lutherischen Kirche singen wir nach dem Sündenbekenntnis das dreimalige "Herr, erbarme dich", und wieder kann ich mitsingen. Dass dann das Gloria folgt, ist selbstverständlich. Erst dann gibt es die Psalmlesung - im Wechsel gesprochen, leider nicht gesungen. In der zweisprachigen deutsch-koreanischen Bibel, kann ich den Lesungen folgen, aus dem Alten Testament, den Briefen und dem Evangelium. Das Glaubensbekenntnis kann ich auf deutsch mitsprechen, Während der Predigt mache ich mir meine eigenen Gedanken über den Text. In jedem Gottesdienst wird Abendmahl gefeiert. Und wieder kann ich ohne Schwierigkeiten mitfeiern: Beim Sanctus (Heilig, heilig, heilig), bei den Einsetzungsworten, beim Vaterunser und beim Agnus Dei (Christe du Lamm Gottes) bin ich auf deutsch mit dabei. Selbst das Nunc dimittis (Im Frieden dein EG 222) am Ende ist mir nicht fremd. Nur die Bekanntmachungen muss mir meine Frau stichpunktartig übersetzen. In diesem Gottesdienst fühle ich mich zuhause. Die anderen koreanischen Kirchen mit ihren großen reformierten und methodistischen Gemeinden gestalten ihre Liturgie nur mit Lesungen, Gebeten, und Liedern, die meist amerikanisch geprägt sind. Worte - und nur die Texte der Bibel kann ich mitlesen. Außer dem Vaterunser und dem Glaubensbekenntnis - und dies auch nicht immer - keine traditionellen liturgischen Texte, die auf deutsch mitsprechen und mitsingen könnte, die sich in meiner Seele einnisten könnten - wie die jährlich immer wiederkehrenden Bibeltexte. Ich denke an Johannes Chrysostomos (Prediger Goldmund), der vor über 1600 Jahren im heutigen Istanbul den Gottesdienst in dieser Weise gefeiert hat, und ich fühle mich eingebunden in die Menge der Menschen, die vor mir den dreieinigen Gott angebetet haben und heute mit mir in der gleichen Weise anrufen.
Und am Nachmittag dann Plätzchen, Kuchen, Stollen, Kaffee, Tee, Mandarinen. Die Stollen sind eingeflogen worden, der deutsche Kaffee und die Spekulatius auch. 130 Teilnehmer sind gekommen - statt der erwarteten 80. Schnell ist alles weg. Ich sage etwas von der Vorfreude auf Weihnachten, vom Einüben des Wartens und des "Sich-freuens", von der Entsagung, die die Freude um so größer sein lässt.
Beim Kaffeetrinken toben die Kinder, kein Wunder, denn in den Etagenwohnungen haben sie wenig Auslauf. Ein Haus mit Garten wäre hier Luxus. Die Bodenpreise sind hoch. Überall werden darum die Wohnsiedlungen mit ihren acht- bis zehnstöckigen Wohntürmen gebaut. Für den Bezug einer Etagenwohnung zahlt man ein Schlüsselgeld, eine Kaution. Sie ist so hoch wie in Colmberg der Preis für ein Einfamilienhaus mit Garten. Natürlich zahlt man da dann keine Miete. Der Vermieter bedient sich aus den Zinsen. Aber die Nebenkosten sind auch noch da, die Miete sagen die Koreaner.
Der Chor der Humboldtstudenten singt Adventslieder, und macht uns Lust, selber die Stimme in die Hand zu nehmen. Cecilia, eine ausgebildete Sängerin, leitet unser Adventssingen. Die Kinder des Kindergartens zeigen ihren Lichtertanz, tragen Christi Licht in die Welt. Und am Ende singen wir "O du fröhliche", obwohl es noch nicht Weihnachten ist; es ist ein Kompromiss, denn weil wir das Licht ausmachen, muss es ein Lied sein, das alle auswendig können. Und während wir singen, nehmen wir unser Handy in die Hand, der Bildschirm leuchtet, und mit ihm winken wir durch den dunklen Saal, - auch wir sind Lichtträger. Das Handy, das zum zweiten Ich geworden ist, weil man wegen der langen Wege lange außer Haus ist, weil man mitteilen muss, dass man später kommt, weil der Stau so groß ist, weil man fragen muss, wie man jetzt zu dem Haus findet, obwohl man doch ganz nahe ist, denn Straßennamen und Hausnummern sind nicht üblich und das Zahlensystem der Post ist unbegreiflich. Das leuchtende Handy: Auch wir wollen Licht sein und Orientierung und Wärme geben, wenn wir mit anderen sprechen; vor allem aber wollen wir mit unserem Handy Gott zurufen: "Hier sind wir; schau auf uns, wende uns dein Antlitz zu, ruf uns an!". Gott kommt zu uns - und wir erwarten ihn.
Dr. Jürgen Denker